Entscheidungscoach Jocham: „Ich habe den Schritt in die Selbstständigkeit keine Sekunde lang bereut. Würde ich meinen Weg auch anderen empfehlen? Das kommt darauf an“.
Mein erstes Leben
Ehrgeizig war ich schon immer. Nach der Schule absolvierte ich ein technisches Studium, dann gleich noch ein Wirtschaftsstudium, und dazwischen war ich im Ausland. Einer Musterkarriere stand nichts im Weg. Damals – vor 20 Jahren – stand nicht Start-up auf der Wunschliste von Studienabgängern ganz oben, sondern McKinsey, Goldmann Sachs und Co. Letzteres gab es in Österreich nicht, also bin ich in die Strategieberatung gegangen und habe bei internationalen Projekten die Nacht zum Tag gemacht. Nach ein paar Jahren ging ich als Projektmanager in einen Konzern und kurze Zeit später als Führungskraft in den nächsten. Ich fiel mit meinen Teams positiv auf, erklomm die Karriereleiter und war mit 35 Jahren der Leiter des Group-Controllings und der jüngste Bereichsleiter eines 40.000-Mitarbeiter-Konzerns.
Übergangsphase 1
Nach ein paar erfolgreichen Jahren bekamen meine Frau und ich unser erstes Kind. Beim zweiten Kind kam dann der Entschluss: Mein Leben ist nicht nur die Firma, ich will mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. Das Unternehmen hatte gerade eine große Kampagne zu Gleichberechtigung und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gestartet. Das war ein guter Zeitpunkt für mich, um über eine Elternteilzeit nachzudenken. Die Konzernkommunikation interessierte sich für meine Geschichte, und so wurde ich in der Mitarbeiterzeitung vor den Vorhang geholt: Unter dem halbseitigen Artikel ein großes Foto mit meiner hochschwangeren Frau, unserem eineinhalbjährigen Sohn und mir.
Kurze Zeit später hatte ich einen Termin beim CEO: „Sie gehen also in Elternteilzeit?“
„Ja“, antwortete ich und hoffte auf Anerkennung für meinen mutigen Schritt. Die Antwort war deutlich kühler als erwartet: „Gut, das ist Ihre Entscheidung.“
Der CEO hatte es nicht in aller Deutlichkeit ausgesprochen, und doch gab es keinen Zweifel: Meine Karriere hier war vorbei. Ich bewarb mich später noch auf die eine oder andere Position, wurde aber ignoriert. Es war Zeit zu gehen, doch wohin?
Übergangsphase 2
Die Jobs, die ich wollte, bekam ich nicht. Und die Jobs, die ich bekam, wollte ich nicht. Also entschied ich mich für die Selbstständigkeit. Ob als Berater, Trainer, Coach oder Speaker, das wusste ich damals noch nicht so genau. Die Arbeitshypothese war erst einmal, dass „komplexe Probleme lösen“ ein spannendes Thema sein könnte. Also rief ich einen Podcast ins Leben, baute mir eine Website, schrieb ein paar Fachartikel und machte mich auf die Suche nach Kunden.
Die Ausbeute war überschaubar. Nein, eigentlich war sie ernüchternd. Ein paar Monate nach meinem hoffnungsfrohen Start hatte ich zwar viel gearbeitet, aber kaum etwas verdient. Meine finanziellen Reserven gingen langsam zur Neige. Da erreichte mich die Nachricht aus einem der größeren und bekannteren Unternehmen hierzulande: „Unsere ProjektmanagerInnen präsentieren regelmäßig vor dem Topmanagement. Sie schaffen es aber nicht, die Komplexität so zu reduzieren, dass sie auch verstanden werden und die Manager entscheiden können. Können Sie uns helfen?“ Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz: Unterlagen aufbereiten und Entscheidungen vorbereiten – und zwar kurz, knackig und so, dass man es auch versteht und dann entscheiden kann und will – genau das habe ich mehr als 15 Jahre in Beratung und Konzern gemacht! Wäre das nicht ein Thema? Ab da war es mein Thema.
Mein neues Leben
Seit zwei Jahren trainiere ich Projektmanager und Führungskräfte bis zum mittleren Management darin, wie sie Entscheidungen so vor- und aufbereiten, dass Entscheider auf dieser Basis rasch und verlässlich entscheiden. Davon haben alle etwas: Die einen bekommen die Entscheidungen, die sie brauchen, darüber hinaus Anerkennung und Wertschätzung. Die Entscheider sind glücklich, weil ihre Zeit, und damit ihre wertvollste Ressource, respektiert und geschont wird. Und den Unternehmen insgesamt hilft es, weil in dynamischen Zeiten wie heute nicht nur gute Entscheidungen, sondern vor allem rasche Entscheidungen ein Erfolgsfaktor sind. Weil mehr und mehr Unternehmen verstehen, dass sie das gerne hätten, weil meine Methoden funktionieren und weil es kaum sonst jemanden gibt, der das Thema beherrscht, bin ich nun gut ausgebucht.
Derzeit schreibe ich mein erstes Buch „Schneller Entscheidungen bekommen“ fertig, das Ende des Sommers erscheinen wird. Wenn die Entwicklung so weitergeht, werde ich ein eigenes Trainerteam aufbauen. Ich selbst arbeite gern und viel, beschränke mich aber auf 60 Trainingstage pro Jahr, damit ausreichend Zeit für die Familie – inzwischen drei Kinder –, für Freunde und Sport, für Studien und Fachartikel, fürs Buchschreiben und für die Entwicklung meines Geschäfts bleibt. Gleichzeitig ist mein Tagsatz hoch genug, dass es sogar mein früheres Einkommen als Manager übersteigt.
Mein Leben ist schön, und ich habe den Schritt in die Selbstständigkeit – auch wenn ich zu Beginn einen ordentlichen Schubser gebraucht habe – keine Sekunde lang bereut. Würde ich meinen Weg auch anderen empfehlen? Das kommt darauf an. Ja, wenn man Lust am Lernen und Wachsen hat und wenn man bereit ist, die Komfortzone immer wieder zu verlassen. Ja, wenn es einem nichts ausmacht, sich auf Kunden und ihre Bedürfnisse einzustellen und wenn man auch an Tätigkeiten Spaß findet, die für viele unattraktiv sind, zum Beispiel „Verkaufen“. Dann nämlich macht es unglaublich großen Spaß, ein eigenes Geschäft zu entwickeln, daran zu wachsen und zu sehen, wie Ideen zum Erfolg werden. Ach ja: Dem damaligen CEO, der meine Konzernkarriere beendet hat, bin ich heute fast ein wenig dankbar. (Georg Jocham, 26.6.2019)
Georg Jocham ist selbstständiger Entscheidungscoach.
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